„Für mich ist es keine Tragödie“ - Deutsche Oper Berlin

Ein Gespräch mit Martina Helmig

„Für mich ist es keine Tragödie“

Der britische Regisseur Graham Vick inszeniert Benjamin Brittens „Tod in Venedig“ – am Pult steht Donald Runnicles

Auf der Suche nach Inspiration reist der alternde, verwitwete Schriftsteller Gustav von Aschenbach nach Venedig. Dort fühlt er sich völlig überraschend zu dem Knaben Tadzio hingezogen. Benjamin Brittens letzte Oper „Tod in Venedig“ basiert auf der berühmten, von Luchino Visconti kongenial verfilmten Novelle von Thomas Mann. Ein Jahr nach der Uraufführung fand 1974 an der Deutschen Oper Berlin die Deutsche Erstaufführung statt. Die Neuinszenierung des erfahrenen britischen Regisseurs Graham Vick ist am Haus die zweite Produktion der Oper und gleichzeitig der vierte Teil des von Generalmusikdirektor Donald Runnicles initiierten Britten-Zyklus.

Aschenbach geht auf eine Reise. Wo führt sie hin? Nach Venedig, in sein eigenes Innenleben oder in den Tod?
Graham Vick: Die Reise endet im Tod. Es ist aber keine wirkliche Reise, eher ein Traum oder ein Vorgang in Aschenbachs Kopf. Wir haben es hier nicht mit der Novelle von Thomas Mann zu tun. Es ist eine viel bekenntnishaftere Auseinandersetzung mit einer Reise in die Ewigkeit.

Wenn wir uns nicht in der realen Welt befinden, sondern in Aschenbachs Kopf, ist dann jede Figur der Oper eigentlich Aschenbach?
Vick: Genau, der Protagonist und seine Gegenspieler sind nur verschiedene Aspekte von Aschenbach. Britten führt Funktionen des Gehirns vor: Leiden schaft, Sucht und die Mechanismen der Selbsttäuschung, die uns dazu bringen, Nein zu sagen, während wir gleichzeitig ein Ja planen.

Wofür steht der Sehnsuchtsort Venedig?
Vick: Historisch ist es die Stadt der Ausschweifungen. Sie steht für Karneval, für Maskierung. Alles ist erlaubt, hier kann das Undenkbare ausgelebt werden. Die Schönheit von Venedig trägt den Verfall in sich. Es ist zweischneidig.

1967 wurde Homosexualität in England legalisiert. Fünf Jahre später begann der homosexuelle Komponist Benjamin Britten, diese Oper zu schreiben. Geht es darin um Homosexualität, um Pädophilie, oder ist der begehrte Junge eine Metapher für Schönheit und Perfektion, wie Thomas Mann es sah?
Vick: Britten war ein großer Künstler, deshalb ist seine Persönlichkeit in seine Kunst eingegangen. In „The Turn of the Screw“, „Billy Budd“ und „Peter Grimes“ – überall gibt es dieses Element der Homoerotik und sein Interesse an Heranwachsenden. Sein Lebensgefährte Peter Pears und er lebten lange illegal zusammen. Sie lebten ihre Liebe öffentlich, ohne es zuzugeben. Das ist sehr britisch. Noch in den frühen neunziger Jahren mussten mein Partner und ich getrennte Zimmer beziehen, als wir zum ersten Mal in Glyndebourne arbeiteten. Das Stück erzählt von Liebe, Eros und Gedankenspielen. Es geht nicht um Pädophilie, weil Pädophilie erst anfängt, wenn man Gedanken in Taten umsetzt. Aber Tadzio ist nicht nur ein Symbol für Perfektion, er ist ein Junge.

Donald Runnicles: Aschenbach möchte mit dem Jungen sprechen, möchte sich erklären. Aber jedes Mal, wenn er die Chance bekommt, hüllt er sich plötzlich in Schweigen. Er kann es nicht aussprechen. Das ist der Punkt, an dem ich das Stück als Metapher sehe. Es geht um uns alle. Unser Geist kann gehen, wohin er möchte, ohne dass es irgendjemand erfährt. Wie viele von uns wünschen sich manchmal, etwas zu tun, was sie in Wirklichkeit niemals tun würden. Es geht da nicht nur um Sexualität, sondern um viele Bereiche. Wir haben unsere Erziehung, unsere Regeln und Normen. Homosexualität ist nur ein Beispiel. Es betrifft ebenso die Marschallin im „Rosenkavalier“, die weiß, dass sie zu alt für den Jungen ist. Warum geht Aschenbach zum Friseur und sieht am Ende aus wie dieser alte Geck, den er am Anfang so lächerlich fand? Wir sind heute besessen von Jugend, vom jugendlichen Aussehen.

Aschenbach stirbt am Ende. Ist das tragisch oder nur folgerichtig? Britten soll auf dem Totenbett gesagt haben: „Für die Unglücklichen ist der Tod keine Katastrophe.“ Gilt das auch für Aschenbach?
Vick: Für mich ist es keine Tragödie. Es gibt so viele leuchtende, helle Farben in der Musik. Ich glaube, dass Aschenbach selbst den Tod wählt. Er weiß genau, dass er eine giftige Erdbeere isst, eine Frucht, die normalerweise Sinnlichkeit, Leben und Frühling symbolisiert.

Runnicles: Britten hat seine letzte Oper komponiert, als er schon sehr krank war. Er konzentrierte sich darauf, seine Oper fertigzustellen und schob dafür seine Herzoperation hinaus. Das war sein Testament. Die Tatsache, dass er fähig war, Aschenbachs Tod zu komponieren und die Oper zu beenden, war keine Tragödie, sondern ein Moment intensiver Erleichterung. Die Musik ist am Ende nicht tragisch. Sie hat vielmehr eine Traurigkeit wie das Ende von Mahlers Neunter, eine ruhige, gelassene Akzeptanz des Unvermeidlichen.

Wie würden Sie den Stil des späten Britten beschreiben?
Runnicles: Wie Mahler und Schostakowitsch komponierte er immer ökonomischer, als er älter wurde und das Schreiben ihm körperliche Schmerzen bereitete. Er bricht seine Art zu komponieren auf das Wesentliche herunter. Wie vermittelt man dem Publikum, dass Aschenbach nicht zum Hörer spricht, sondern dass er seine Gedanken ausdrückt? Er hat die brillante Idee, dafür eine der ältesten Kompositionsmethoden zu wählen: das Recitativo secco mit Klavier. Schwarzweiß im Unterschied zum farbenreichen Orchester. Es gibt A-Dur-Akkorde im Chor, die von Monteverdi stammen könnten. Ich finde Anklänge an Schütz. Oft gibt es nur ein oder zwei Instrumente. Ein einziges Instrument kann bei ihm aber eine ganze Welt ausdrücken. Wie beschreibt man Venedig musikalisch? Die Gondel, die sich auf dem Wasser bewegt, der Motor, die Wellen – alles steckt in der Musik.

Was bedeutet der Gebrauch der Zwölftontechnik in dieser Oper?
Runnicles: Er steht als Symbol für Formalismus und Strenge. Britten wendet die Zwölftontechnik in Aschenbachs allererster Phrase an. Sie charakterisiert ihn als brillanten, steifen, höchst disziplinierten Mann. Dann hört man die Musik des Jungen, die pentatonische Skala, die Exotik der balinesischen Anklänge. In dem Moment, wenn Aschenbach sich erlaubt, zu seinen Emotionen zu stehen, dann erklingt plötzlich Musik wie vom frühen Britten: schön, tonal, sinnlich.

Warum sind die Tänzer in dieser Produktion Schauspieler?
Vick: Tadzios Schönheit liegt in seiner unschuldigen Natürlichkeit. Tänzer haben trainierte, geformte Körper und strahlen für mich diese Natürlichkeit nicht aus. Ich habe sehr bewusst einen dunkelhaarigen Tadzio ausgewählt. Er soll nicht aussehen wie eine griechische Statue oder wie das Coverfoto eines Schwulenmagazins.

Die Oper schreibt 17 Szenen an schnell wechselnden Orten vor. Wie gehen Sie damit um?
Vick: Wir vermeiden die Szenenwechsel. Es ist schwierig, so viele Umbauten rechtzeitig und vor allem ohne Geräusche hinzubekommen. Hier haben wir es mit einer empfindlichen Partitur zu tun. Wenn wir uns in einem Traum oder in Aschenbachs Kopf befinden, kann er ruhig sagen, dass er in einer Gondel sitzt, ohne dass wir die Gondel sehen müssen.

In welcher Zeit siedeln Sie die Oper an: 1911, 1973 oder heute?
Vick: Definitiv nicht 1911, weil der Schatten von Viscontis Film so unglaublich lang ist.

Runnicles: Ich liebe den Film, aber ich glaube, dass er Thomas Manns Novelle gar nicht gut getan hat. Daher kommt die Konzentration auf das Thema Homosexualität, er führt Aschenbach als perversen alten Mann vor. Es gibt doch nichts Schlimmeres, als wenn der Zuschauer in der Oper den Eindruck hat, dass die Oper nichts mit ihm zu tun hat. Ein alter Mann, der einem Jungen nachstellt, ist kein Thema für eine große Oper. Was man aus dieser vielschichtigen Oper herausfiltern kann, geht doch so weit darüber hinaus. Sie fragt zum Beispiel: Sollte man von den verbotenen Früchten kosten? Es ist vielleicht die persönlichste Oper, die Britten je geschrieben hat.

Beenden Sie mit seiner letzten Oper den Britten-Zyklus an der Deutschen Oper Berlin?
Runnicles: Oh, nein, auf keinen Fall! Ich bin sehr stolz auf die Rezeption des Zyklus durch Publikum und Presse. Das Orchester liebt diese Musik sehr, der Chor war am Anfang skeptisch und hat von Produktion zu Produktion mehr Begeisterung entwickelt. Es ist nicht mehr nur meine Passion, das ganze Haus liebt Britten. Wir bewundern einen der größten Opernkomponisten aller Zeiten. Die Stücke sind zeitlos gültig. In den Händen eines Meisters wie Graham Vick können sie uns berühren, aufregen und ermutigen.

Ersterschienen in der Beilage der Deutschen Oper Berlin in der Berliner Morgenpost, März 2017

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