Hosenrollen in der Operngeschichte - Deutsche Oper Berlin

Juveniler Schwung und geistige Frühverrentung

Hosenrollen in der Operngeschichte

Wenn Prinzen und Pagen von Frauen gesungen werden

Dem Jungen ist kaum noch zu helfen. Erst 18 Jahre zählt dieser Prinz Orlofsky, der seine legendären Partys für die Wiener Gesellschaft ausrichtet, und doch scheint dieser junge Aristokrat schon alle Möglichkeiten der Freizeitgestaltung erschöpft zu haben, die ihm seine Millionen-Erbschaft bietet. „Alles langweilt mich; ich kann nicht mehr lachen“, erklärt er sein Luxusproblem im zweiten Akt in Johann Strauß’ DIE FLEDERMAUS – und man darf annehmen, dass sich auch in Orlofskys Restleben nicht mehr viel an diesem Zustand geistiger Frühverrentung ändern wird.

Wer die Operette zum ersten Mal erlebt, dürfte über diesen juvenilen Playboy jedoch aus ganz anderem Grund erstaunt sein. Johann Strauß schrieb die Partie des Prinzen Orlofsky für eine Frauenstimme – und stellte sie damit in die Tradition der Hosenrollen, einer Opernkonvention, die in zahllosen Werken von Mozart zu Meyerbeer ihre Spuren hinterlassen hatte. Denn wenn eine Frau auf der Bühne Männerkleider trug, bedeutete das meist, dass es sich hier um einen Teenager handelte – um einen Heranwachsenden jedenfalls, der noch nicht seine (tiefere) Männerstimme erlangt hatte und dem mutmaßlich auch die sexuelle Erfahrung noch, freilich unmittelbar, bevorstand. Eine implizite Gleichsetzung von Stimmbruch und Geschlechtsreife, die auch darin begründet sein mag, dass der Stimmbruch bei Jungen bis ins 20. Jahrhundert hinein vermutlich ernährungsbedingt etwa zwei Jahre später einsetzte als heute.

Auf der Bühne traten die Vertreterinnen dieses Rollenfachs meist als Pagen in Erscheinung, also als junge Adelige, denen aufgrund ihrer mutmaßlichen Ungefährlichkeit der exklusive Zugang zur Privatsphäre ihrer Dienstherrinnen erlaubt war: Der Cherubino in Mozarts DIE HOCHZEIT DES FIGARO ist der berühmteste Vertreter dieser Spezies, und nicht allzu lange vor der Uraufführung der FLEDERMAUS 1874 hatte Giuseppe Verdi mit dem Oscar in EIN MASKENBALL und dem Tebaldo in DON CARLO noch einmal Pagennachwuchs für die Opernbühne geschaffen.

Und ähnlich wie der Großmeister der französischen Operette, Jacques Offenbach, in seinen Werken immer wieder die Grand Opéra und damit zugleich den Pomp des französischen Kaiserreichs aufs Korn genommen hatte, steckt auch in Strauß’ Orlofsky nicht nur ein Spiel mit der Operntradition, sondern auch ein Stück Gesellschaftssatire. Zwar können wir den jungen Adelsspross durch seine Stimmlage in der Tradition Cherubinos verorten, doch wo Mozarts Page vor Tatendrang und pubertärem Lebenshunger nur so überschäumt, herrschen bei seinem späten Nachfolger nur noch die Lethargie und die Launen eines verzogenen Kindes, das alles mit einem achselzuckenden „’s ist mal bei mir so Sitte“ rechtfertigt.

Diesem Teenager entlocken selbst die wüstesten Orgien nur noch ein Gähnen – und zugleich wird er zum Sinnbild einer überlebten Theaterkonvention.

Der Hosenrolle hätte das eigentlich den Todesstoß versetzen müssen, so wie die Grand Opéras Giacomo Meyerbeers nach der Verballhornung durch Offenbach als überholte Kunstform deklassiert waren. Doch tatsächlich erlebte sie ein Vierteljahrhundert nach der FLEDERMAUS ein unerwartetes Comeback. Denn das Vergangene war nun so lange her, dass es zum historischen Versatzstück taugte: Komponisten wie Jules Massenet und Richard Strauss holten nicht nur den Opernpagen wieder aus dem Fundus, sondern machten die Hosenrolle zum Inbegriff der Reminiszenz ans Rokoko.

Darüber hinaus aber wurden Frauen in Männer-, oder besser Jungenkleidern, zu Hauptprotagonisten der Märchenopern, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Opernbühnen eroberten. Der Prototyp dieses neuen, sorgsam von allen sexuellen Zweideutigkeiten gereinigten Fachvertreters begegnet uns in der vielleicht bekanntesten Märchenoper, Engelbert Humperdincks HÄNSEL UND GRETEL: Sein Hänsel ist kein Jugendlicher, sondern ein Kind, das sich uns mit echten Kinderliedern vorstellt und dessen Gelüste nicht der Erkundung des weiblichen Geschlechts, sondern dem Verzehr von Lebkuchen gelten.

Suspekt ist hier allein die Hexe, die übrigens in vielen Inszenierungen von einem Mann verkörpert wird. Aber das ist eine andere Geschichte.

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