Ringen um jeden Ton - Deutsche Oper Berlin

Was mich bewegt

Ringen um jeden Ton

Andrej Koroliov sucht maximale Konzentration und hält sogar eine Diät ein, wenn er komponiert. So entsteht ein neues Stück für die Tischlerei. Uraufführung: September 2021 … Der Komponist Andrej Koroliov über seine Art, Musik zu schreiben

Die Vorüberlaufenden
Musiktheater von Andrej Koroliov auf einen Text von Gerhild Steinbuch nach einer Idee von Theresa von Halle basierend auf Franz Kafkas gleichnamigem Werk
Uraufführung am 24. September 2021

Wenn ich komponiere, diskutiere ich mit mir selbst. Sobald ich ein paar Noten aufschreibe und es gefällt mir nicht, streiche ich sie nicht einfach nur durch, sondern ich überlege schriftlich, schreibe aufs Blatt, in ganzen Sätzen, warum es mir nicht gefällt. Das sieht zum Beispiel so aus: »Takt 20-24 – gefällt mir noch nicht – das ist bisher nur ein Bauchgefühl – woran könnte es liegen, um welche Aspekte der Musik geht es?« Mein Missfallen ist am Anfang immer nur ein Bauchgefühl; aber dabei darf es nicht bleiben, von Bauchgefühlen allein wird die Welt gefährlich. Ich denke also nach, finde vielleicht heraus, ob da eine rhythmische Figur überflüssig ist oder stört. Oder ob die Instrumentierung falsch ist oder sich etwas in der Musik wiederholt, obwohl es das nicht muss.

Ich schreibe meine Musik zunächst klassisch auf Notenpapier. Ich schreibe Noten, dann wieder Sätze, in denen ich über die geschriebenen Noten nachdenke, und so weiter. Komponieren ist ein dialektischer Prozess, philosophisch, fast schon religiös. Irgendwann bekommt das Werk ein Eigenleben. Die Töne entwickeln eine innere Logik, sie müssen so sein, wie sie sind. Der Komponist wird dabei immer unwichtiger. Komponieren heißt: mich abschaffen. Das Ich muss verschwinden.

Der Kampf mit den Tönen zeigt sich auch auf den Notenblättern mit Koroliovs Notizen zu seiner aktuellen Komposition © Andrej Koroliov
 

In meiner neuen Kammeroper geht es um das Wegschauen aus Angst, um die Zivilcourage und wie sie scheitert. Solche brisanten Themen misslingen oft. Basierend auf dem kleinen Text Die Vorüberlaufenden von Franz Kafka hat die Autorin Gerhild Steinbuch einen Text geschrieben, der das Thema umkreist, viel mit Wiederholungen arbeitet, der verstört und wachrüttelt. Ich als Komponist muss damit umgehen, als würde ich eine neue Sprache lernen. Das Libretto gibt mir viel vor, ich lerne es auswendig, tauche ganz in den Text ein.

Und dann versuche ich, die Musik zu spüren, ich muss quasi jedem Instrument und jedem Ton einmal »Guten Tag« sagen. Bei diesem Stück gibt es vier Sänger, eine Schauspielerin und ein kleines Ensemble. Das Ensemble besteht aus zwei tiefen Streichern, Klavier, Posaune und einer Saxophonistin, die von der Regisseurin Theresa von Halle auch als Darstellerin inszeniert wird. Die Musik arbeitet mit Wiederholungen, die sich ganz langsam verändern. Vor allem aber soll sie herausfordern, beschäftigen, berühren, ärgern.

Wenn ich komponiere, muss ich ein Zeichen für mich setzen, dass etwas sich verändert und in Gang kommt. Das kann zum Beispiel eine Diät sein – wie gerade jetzt, wo ich auf Zucker, Mehl und Alkohol verzichte – oder Körperarbeit, aber auch etwas komplett Konträres. Man muss immer testen, was gerade hilft und flexibel statt ideologisch sein. Es geht immer nur um das Stück und nicht um mich und meinen Körper oder mein Ego. Wenn ich wüsste, dass es hilft, würde ich mich auch ausschließlich von Bockwürsten ernähren. Generell muss ich auf der Höhe meiner Leistungsfähigkeit sein. Im Stress der Arbeit wird man schnell fest und verpanzert, aber als Künstler will ich durchlässig bleiben.

Der Hamburger Komponist und Pianist Andrej Koroliov. Zur Zeit lebt und arbeitet er im Rahmen eines Stipendiums in der Villa Massimo in Rom © Andrej Koroliov
 

Komponieren muss man im Prinzip mit jedem Werk neu lernen. Joseph Haydn durfte noch sechs Sinfonien am Stück komponieren, die einander stilistisch ähnlich waren. Wir müssen heute mit jedem Werk die Musik als Sprache neu erfinden. Ich glaube im emphatischen Sinne an die Kraft der Musik, Menschen zu bewegen. Wieder »Musik« zulassen, das ist ein Wagnis und bedeutet nichts weniger als rückwärtsgewandte Reflexionsfeindlichkeit. Musiker sollten keine Stars sein, sondern Demut üben und an ihre Sache glauben und ihr vertrauen. Wer die Leute bewegen will, muss zuerst sich selbst bewegen.

Die Gefahr des Scheiterns schreckt mich nicht mehr. Ich bin HSV-Fan. Das ist wie das Leben, es tut weh, es ist immer wieder aufs Neue schrecklich, aber man macht immer weiter. Diese ewige Enttäuschung ist mehr als Fußball, das ist Kunst, und wenn man es so sieht, ist es wieder großartig. So sehe ich auch Musik – in großen mythologischen Dimensionen.

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