Was mich bewegt

Tanz auf dem Vulkan

Rued Langgaards ANTIKRIST ist eine erstaunlich hellsichtige Endzeitfantasie der 1920er Jahre, die an Aktualität heute eher noch gewonnen hat, sagt der Dramaturg Lars Gebhardt

Der turbulenten 1920er wird derzeit, 100 Jahre später, viel und oft gedacht. Die Mischung aus politischer Spannung und selbstvergessener Vergnügungssucht scheint heute wieder spürbar zu sein, zumal hier, in Berlin, schon vor einem Jahrhundert das Epizentrum des dekadenten »Tanz’ auf dem Vulkan« lag.

Die gut 15 Jahre zwischen dem Ende des »Großen Krieges« und der Machtergreifung Hitlers lassen sich im Nachhinein wie eine große Blase der Möglichkeiten verstehen: Die Menschen drängen weiterhin in die Städte, politische Konzepte von links und rechts radikalisieren sich, treffen im Straßenkampf aufeinander und die Ideenwelt der Kunst und Kultur explodiert geradezu. Gleichzeitig revolutioniert der Film das Freizeitverhalten und von Beginn an sind dort Unterhaltung und Gesellschaftskritik miteinander verbunden. Fritz Langs »Metropolis« zum Beispiel ist eine frühe Dystopie, eine dunkle Science-Fiction-Erzählung, die die mechanisierte Lebenswelt konsequent weiterdenkt. Die Vielzahl der Möglichkeiten einer offenen und diversen Gesellschaft der 1920er Jahre spiegelt sich in der Vielzahl hoffnungsfroher wie pessimistischer Zukunftsvisionen: Künstler und Künstlerinnen aller Gattungen fragen, wie lange der Tanz auf dem Vulkan noch weitergehen kann.

Fast das ganze Jahrzehnt hindurch arbeitet in Kopenhagen, vermeintlich fernab vom Zeitgeschehen, der dänische Komponist Rued Langgaard an seiner einzigen Oper. ANTIKRIST ist ein verrätseltes Werk, ein merkwürdiger Monolith und zugleich ein hellsichtiges Zeugnis dieses schillernden, janusköpfigen Jahrzehnts. Sein Schöpfer ist eine tragische Figur. Langgaard, 1893 in eine musikalische Familie geboren, wird in jungen Jahren als Orgel- und Klaviervirtuose in seiner Heimat gefeiert. 1913 bringen die Berliner Philharmoniker seine 1. Sinfonie zur Uraufführung, es folgen weitere sinfonische Werke in seiner Heimat – doch wirklich zu Ruhm gelangt er in Dänemark nicht. Anstellungen als Organist werden ihm verweigert, sein spätromantisch- süffiger Stil scheint im Schatten der Klarheit eines Carl Nielsen aus der Zeit gefallen.

Als Langgaard 1923 ungefragt bei der Königlichen Oper in Kopenhagen eine Oper mit dem Titel ANTIKRIST abgibt und um Aufführung bittet, erfährt er kalte Ablehnung. Sein selbst verfasstes Libretto erzählt fein durchdacht den Weg Apollyons, der als Personifizierung des biblischen Antichrists seinen eigenen Untergang und die zweite Ankunft Christi herbeiführt.

Inspiriert ist diese Geschichte vom gleichnamigen Poem des Dänen Peter Eggert Benzon und Robert Hugh Bensons »Lord of the World«. Und vor allem dieses Libretto stößt auf Unverständnis, sodass Langgaard beginnt, den Text umzuarbeiten. Aus einer psychologischen Erzählung wird nun eine Art oratorische Revue. Inspiriert von apokalyptischen Bildern der biblischen Offenbarung des Johannes lässt Langgaard die Personifizierungen des Antichrists auftreten und präsentiert die verführerischen, apokalyptischen Laster der Menschheit: »Der Mund, der große Worte spricht«, »Die Lüge«, »Die große Hure«, »Der Hass«, »Der Missmut«.

Es ist noch immer ein sprachgewaltiges Libretto, das Langgaard geschrieben hat. Es wimmelt nur so von Metaphern und biblischen Anspielungen, ANTIKRIST spiegelt wie kaum eine andere Oper der 1920er Jahre die Mischung aus Aufbruch- und Endzeitstimmung dieses Jahrzehnts. Für Langgaard wurde es ein zutiefst persönliches Werk, denn er sah die Menschen um sich herum tatsächlich auf falschem Weg. ANTIKRIST war Langgaards Appell zu Wahrhaftigkeit und Standhaftigkeit an seine Zeitgenossen, während sie durch den Wandel taumelten - aber auch der Wunsch nach einem reinigenden Gewitter eines erlösenden Gottes.

Doch die Kopenhagener Oper lehnt auch seine vielfachen Überarbeitungen ab, Langgaard wird zum Außenseiter und erst in den 1940er Jahren kommt er halbwegs an, dank einer Anstellung als Organist am Dom zu Ribe – in der Provinz. Seine Oper wird er nie auf der Bühne erleben; die Uraufführung findet erst 1999 statt, weit nach seinem Tod.

Bei aller Tragik endet Langgaards Erzählung ANTIKRIST hoffnungsfroh: Gottes Stimme schenkt den Menschen das göttliche Licht zurück und verbannt den Teufel in all seinen Gestalten zurück in die Hölle. Wie kaum ein anderes Werk gehört diese Mischung aus Endzeitfantasie und Heilsgeschichte im Jahr 2020 endlich auf eine Berliner Opernbühne.

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