Nicholas Carter – Mein Seelenort: Das Berner Oberland - Deutsche Oper Berlin

Aus Libretto #9 (2023/24)

Nicholas Carter – Mein Seelenort: Das Berner Oberland

Nicholas Carter liebt die Natur rund um seine Schweizer Wahlheimat. Im Berner Oberland vernimmt er das Echo von Wagners Walhall

Mein Seelenort ist der Spazierweg von meiner Wohnung zum Theater, entlang der Aare, die durch Bern und die gesamte Schweiz verläuft. Ich wohne seit zweieinhalb Jahren mit meiner Familie etwas außerhalb, südlich der Stadt, zu Fuß dauert es nur fünf Minuten bis zum Fluss. Wir wohnen ungefähr eine Dreiviertelstunde Fußweg von den Bühnen Bern mit ihrer Oper entfernt, wenn ich vor einer Probe die Zeit finde, laufe ich. Manchmal höre ich unterwegs Musik, meist aber nicht. Ich merke mehr und mehr, dass ich eine gewisse Stille und Ruhe in meinem Leben brauche.

Wenn man an einem Opernhaus arbeitet, hat man oft 12-Stunden-Tage, voll mit Orchesterproben, Vorsingen, Coachings, Nachmittagsproben und gleich danach Vorstellungen. Natürlich ist das auch eine Freude. Ich habe mir mein Leben lang gewünscht, so zu arbeiten. An der Aare spazieren zu gehen hat im Gegensatz dazu etwas sehr Meditatives. Nicht, dass ich wirklich am Fluss sitzen und meditieren würde. Ich erlaube mir einfach Zeit nur mit meinen Gedanken, meinem Atem.

Wenn wir als Familie die Gelegenheit finden, fahren wir auch gern ins Berner Oberland. Bern ist ja das Tor zu den Alpen, man braucht nicht lange, bis man in Lauterbrunnen oder anderen Orten in diesen wunderschönen Bergen ist. Auch Australien ist ein traumhaftes Land, aber dort, wo ich aufgewachsen bin – in einem Vorort von Melbourne – ist das nahe Gebirge nicht so sehr Teil der Lebenskultur. Ich habe zum Beispiel nie gelernt, Ski zu fahren, das bedauere ich jetzt in der Schweiz ein wenig, aber für mein Gefühl ist es mittlerweile zu spät, um damit anzufangen. Vielleicht lernen es meine Kinder irgendwann. Umso mehr genieße ich die Wanderungen durch die Berge, den Wald, dieses Finden der eigenen Mitte in der Natur. Im Englischen sagt man »centering« dazu, »to center yourself.«

Carter am Ufer der Aare. Der Fluss schlängelt sich von Süden nach Norden durch Bern, vorbei an den Bühnen Bern mit ihrer Oper. Hier ist er Chefdirigent © Florian Spring
 

Die Musik verlässt dabei allerdings nie ganz meinen Kopf. Vor allem, wenn ich gerade mit Partituren befasst bin, die selbst so von Natur durchdrungen sind wie der RING von Richard Wagner. Natürlich klingt aus dem RHEINGOLD der Fluss heraus, und hier oben, in diesen majestätischen Bergen mit den schneebedeckten Gipfeln vor Augen, habe ich die Des-Dur-Akkorde Walhalls im Ohr. Ich habe gelesen, dass Wagner selbst im Berner Oberland spazieren gegangen ist, er hat ja auch in der Schweiz gelebt, seine Villa Tribschen liegt bekanntlich am Vierwaldstättersee. In Bern befinden wir uns an der Oper gerade mitten in einem RING-Zyklus, ich habe schon einige Male DAS RHEINGOLD und DIE WALKÜRE dirigiert, SIEGFRIED steht bald an und ich bin bereits dabei, akribisch die GÖTTERDÄMMERUNG zu studieren.

Ich komme also mit einiger Erfahrung an die Deutsche Oper Berlin, wenn ich dort den kompletten RING dirigiere. Trotzdem: Ein so gewaltiges Werk kann man gar nicht gründlich genug vorbereiten. Ich bin ein großer Fan von alten Aufnahmen des RINGs, Mitschnitte aus Bayreuth aus den 1940er Jahren oder aus den 1950ern, von Joseph Keilberth dirigiert. Wenn ich selbst an einem dieser langen Wagner-Abende auf dem Podest stehe, versuche ich, mich ganz auf den Moment zu fokussieren. Man darf nicht denken: O Gott, ich werde hier bis Mitternacht stehen, sonst wird man überwältigt. Wichtig ist, die Stücke wirklich gut zu kennen, damit man sich eine intuitive Struktur für den Abend bauen kann. Und natürlich muss auch das Orchester die Werke in- und auswendig kennen. Das ist an der Deutschen Oper Berlin der Fall, wie ich vor einigen Jahren bei TANNHÄUSER erleben durfte. Die Musikerinnen und Musiker dort wissen genau, dass es nicht nur den einen Wagner-Klang gibt, rund und schön und dunkel. Sondern dass es die gesamte Palette an Farben braucht. Mal gewaltig wie bei Siegfrieds Tod in der GÖT TERDÄMMERUNG oder wahnsinnig transparent wie beim Waldvogel im zweiten Aufzug von SIEGFRIED. Diese Erfahrung bringt das Orchester der Deutschen Oper Berlin mit. Und deswegen freue ich mich auf den ersten Takt des RHEINGOLD dort genauso wie auf den letzten Takt der GÖTTERDÄMMERUNG und auf alles dazwischen.

Vielleicht finde ich unterdessen auch noch heraus, wo genau Wagner im Berner Oberland spazieren ging. Dann begebe ich mich bald auf seine Spuren.

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