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Die Realistin - Deutsche Oper Berlin

Die Realistin

Marie-Ève Signeyrole ist der Shooting-Star des europäischen Musiktheaters. Jetzt richtet sie ihren Blick auf Verdis MACBETH

Marie-Ève Signeyrole, eine der derzeit gefragtesten Opern-Regisseurinnen Europas, auf einen Gesprächstermin festnageln zu wollen, ist ein bisschen, als würde man einen Schmetterling jagen. Sie flattert mal hierhin, mal dorthin, jongliert mit Projekten, Stücken, Optionen. Im Herbst begeisterte sie mit ihrer TURANDOT das Publikum der Semperoper, gerade probt sie in Wien für ROMÉO ET JULIETTE, im November wird sie an der Deutschen Oper Berlin Verdis MACBETH inszenieren. Es sei diese Gleichzeitigkeit, dieses Tempo, das sie an der Oper begeistere, erklärt sie, als wir sie an einem Sonntagmorgen in der österreichischen Hauptstadt erwischen. Der Faktor Zeit sei einer der Gründe, weshalb sie sich vor mittlerweile über fünfzehn Jahren aus dem Film-Milieu heraus- und in die Opernwelt hineinbewegte: »Beim Film muss man permanent warten, es ist ein sehr langwieriger Prozess. Die Chancen, dass eine Projektidee überhaupt jemals realisiert wird, sind gering, und wenn es doch geschieht, dann ist man zum Zeitpunkt der Fertigstellung oft schon längst mit ganz anderen Themen beschäftigt.« In der Oper hingegen habe sie das Gefühl, näher am Leben zu sein, direkter agieren zu können: »Wenn ich heute eine CARMEN oder wie demnächst einen MACBETH inszeniere, dann geschieht das in Relation zur Welt, wie ich sie gerade wahrnehme. In drei Jahren würde ich es ganz anders machen, weil der Kontext ein völlig anderer wäre. Diese Unmittelbarkeit entspricht mir.«

Tatsächlich zeichnen sich Signeyroles Inszenierungen durch ein sehr enges Verhältnis zur Gegenwart aus. Ihre Arbeiten behandeln die Komplexität des Lebens, Liebens und Handelns in einer von Kriegen, Klimawandel, Flucht und Vertreibung erschütterten Welt auf so wache Weise, dass die Realität und die Wirklichkeit der Bühne sich teilweise wie in einem Spiegel gegenüberstehen. Das gilt besonders für ihre selbstgeschriebenen musikalischen Projekte. Wie das im Herbst 2022 in der Tischlerei der Deutschen Oper Berlin uraufgeführte NEGAR: Als dieses Stück über eine junge Generation im Iran Premiere hatte, gingen in Teheran seit etwa einem Monat Tausende von Menschen auf die Straße, um gegen das autoritäre Mullah-Regime zu protestieren.

Dass die Arbeit, immerhin eine Fiktion, derart mit dem aktuellen Geschehen zusammenfiel, war natürlich kein Zufall. Sie habe den Drang nach Freiheit schon während ihrer Recherche gespürt, so Signeyrole. Um nachzufühlen, was es bedeutet, ein junger Mensch im Iran zu sein, ging sie vor wie eine Journalistin. Sie interviewte Männer und Frauen, Leute aus unterschiedlichen Milieus, befragte sie zu ihrem Alltag, ihren Hoffnungen, ihren Träumen, dem Verhältnis zu ihrem Land. Sie hörte zu, notierte und fügte die verschiedenen Blickwinkel schließlich zu einem Gesamtbild. Die Thematik des Exils, die sie immer wieder aufgreift, die Frage, wo das Zuhause und die eigenen Wurzeln liegen, hat mit der eigenen Biografie zu tun. Als in Frankreich geborene Tochter einer algerischen Mutter kennt Signeyrole das Gefühl, überall und nirgendwo heimisch werden zu können, von klein auf. Sie werde zwar als Französin angesehen, wenn man über sie schreibe, es hieße dann »die französische Regisseurin Marie-Ève Signeyrole«, nur fühle sie sich selbst nicht so. Noch ein Grund, weshalb sie sich vom Film ab- und der Oper zuwandte: »Das französische Kino erzählt gerne kleine, private Geschichten. Es wird viel psychologisiert, damit kann ich wenig anfangen, das ist überhaupt nicht meine Art zu erzählen.« Was sie an der Oper von Anfang an faszinierte und bis heute begeistert, ist die Möglichkeit, mit der Musik und dem Bühnenbild groß aufzufahren: »Die Oper ist eine gigantische, fantastische Maschinerie. Jeden Abend arbeiten hundert Leute im gleichen Moment daran, dass die Aufführung so stattfinden kann, wie das Publikum sie sieht. Das ist unglaublich. Ich bekomme nicht genug davon, bei Aufführungen hinter den Kulissen zu stehen und zu beobachten, wie dieses ganze Gebilde, dieser riesige Organismus sich in jeder Minute neu zusammenfügt und zum Leben erwacht. Dabei ist das Risiko eines Live-Auftritts enorm. Dass es funktioniert, ist die Magie der Oper.«

Die Tatsache, dass sie hier anfangs auch nicht wirklich dazugehörte – weil sie aus einem anderen Feld kam, weil ihr Blick durch die Kamera anders geschult und ihre musikalischen Affinitäten anders gepolt waren, als die klassische Oper das vielleicht vorsieht – hat den Aufstieg der Regisseurin zu einem Shooting-Star der Szene nicht verhindert. Signeyrole bricht Grenzen auf. Sie arbeitet mit Video-Einspielern, bringt elektronische Musik, Klezmer, traditionelle iranische Instrumente auf die Opernbühne – und kommt damit bei Publikum und Kritik bestens an. Liegt das Geheimnis ihres Erfolgs vielleicht gerade dort, in ihrer unkonventionellen Art, dem unvoreingenommenen Ansatz begründet? Ganz eindeutig, glaubt sie. Man unterschätze das Opernpublikum schnell, es sei wesentlich offener und abenteuerlustiger, als viele denken würden: »Die Leute haben Lust auf Neues und freuen sich, wenn man sie ein bisschen wachrüttelt und ihnen ein fünfzig Mal gesehenes Stück anders präsentiert.« Sie erzählt, wie ihr zuletzt in Dresden nach der Aufführung von TURANDOT mehrere routinierte Operngänger strahlend entgegenkamen und meinten: »Danke! Ich habe das Stück zum ersten Mal verstanden!« Das passiere ihr nicht selten. Ein wichtiges Mittel, um dieses neue Verständnis von altbekannten Repertoirestücken zu schaffen, sei der Einsatz von Live-Video: »Das Publikum hat sich daran gewöhnt, die Sänger zu hören, aber kaum zu sehen. Das ist schade, denn dabei geht viel verloren. Als ich noch Assistentin war, fiel mir das sofort auf: Die Emotionen, die ich bei den Proben, also in der Nähe der Sänger, empfand, verpufften während der Aufführung vollkommen. Weil man vom Zuschauerraum aus die Gesichter fast nie sieht und dadurch eine Distanz aufbaut.« Es sei ihr deshalb sehr wichtig, die Kamera zu nutzen und die Intensität der Probensituation auch mit dem Publikum zu teilen. Manche Sängerinnen und Sänger täten sich damit zwar anfangs schwer, doch die meisten würden sich recht schnell daran gewöhnen. Auch weil sie merkten, dass das Publikum sich dadurch viel stärker mit der Figur identifizieren oder auch Empathie empfinden könne.

Denn genau darum gehe es doch am Ende in der Oper. Darum, die Menschen besser zu verstehen. Auch solche, die mit uns und unserer Sicht auf die Welt wenig bis nichts zu tun haben: »Wir bringen die größten Scheusale und die schlimmsten Monster auf die Bühne und lassen sie die schönsten Arien singen. Man muss etwas in ihnen finden, das man nachvollziehen kann. Für mich zumindest ist das sehr wichtig«, beschreibt die Regisseurin ihren Ansatz.

Selbst für Macbeth, diesen einstigen Heerführer des Königs, der zum Königsmörder und schließlich selbst zum König von Schottland wird, habe sie eine gewisse Zuneigung entwickelt. Was ihr noch nicht einmal schwergefallen sei, wie sie lachend bekennt: »In meiner Interpretation des Stückes sind die drei berühmten Hexen keine Geister, sondern ganz real. Sie sind Teil einer geheimen Organisation, die im Hintergrund die Strippen der Welt zieht. Sie sagen Macbeth zu Beginn voraus, dass er König werden soll, und animieren ihn durch ihre zweideutigen Prophezeiungen zu seinen Taten. Sie stürzen ihn in einen mörderischen Wahn, sie manipulieren ihn.« An seiner Schuld und seiner Verantwortung für seine brutalen Taten ändere das natürlich nichts, doch es erkläre einiges. Auch die Beziehung zu seiner Frau, Lady Macbeth, berührt Marie-Ève Signeyrole. Sie sieht darin eine gewisse Tragik: »Sie lieben sich sehr, aber sie können keine Kinder haben, das nagt entsetzlich an ihnen. Für mich ist dieser Schmerz der Motor für ihr Handeln.« Das Stück sei im Grunde wie eine zeitgenössische Politserie: Das Politische und das Intime, die Wechselwirkungen zwischen beiden Sphären seien hier wahnsinnig gut herausgearbeitet und würden die Probleme unserer Zeit überraschend genau widerspiegeln. So sehr, dass es zu einer ähnlichen Überlagerung von Realität und Fiktion wie bei NEGAR kommt? »Ich hoffe nicht«, sagt Signeyrole. »Aber ganz fremd wird uns das, was auf der Bühne passiert, nicht erscheinen. Es ist eine Projektion in eine finstere nahe Zukunft, eine Fiktion. Gänzlich unrealistisch ist diese Dystopie aber leider nicht.«

Annabelle Hirsch arbeitet als freie Journalistin u.a. für FAS/FAZ, taz, ZeitOnline, schreibt Sachbücher und ist außerdem literarische Übersetzerin aus dem Französischen.