Opernsänger küsst man nicht - Deutsche Oper Berlin

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Opernsänger küsst man nicht

Abstand halten! ist die Bühnen-Devise seit Corona. Neu ist das Gebot allerdings nicht, noch zu Verdis Zeiten äußerten selbst Liebespaare auf der Bühne ihre Gefühle auf Distanz – und Küsse gab es erst recht nicht. Chefdramaturg Jörg Königsdorf über Abstand

Es war schon ein starkes Stück, das Giuseppe Verdi in seiner letzten Oper dem Publikum zumutete: Präsentierte er doch in FALSTAFF ein junges Paar, das nicht nur heiße Liebesschwüre tauschte, sondern sich laut Regieanweisung auch auf offener Bühne – und ausgiebig – küssen sollte. Und mehr noch, wie Anselm Gerhard nachgewiesen hat (in „Meisterwerke – neu gehört“, Bärenreiter), verankerten Verdi und sein Textdichter das Geräusch eines Kusses sogar so in der Partitur, dass keine Aufführung des Stückes sich darum herummogeln konnte. Ein echter Aufreger, der bei der Uraufführung 1893 an der Mailänder Scala vermutlich nur durch den Respekt gegenüber dem damals bereits 80-jährigen Komponisten übertüncht wurde. Die Oper des 19. Jahrhunderts, so Gerhard, war in dieser Hinsicht reichlich prüde – zwar war andauernd von Liebe die Rede, doch meist auf Abstand. Ob bei Verdis TRAVIATA oder den jungen Liebenden in Mozarts COSI FAN TUTTE: Um das höchste der Gefühle sichtbar zu machen, gestatten die Komponisten lediglich Handküsse. Selbst Tristan und Isolde, die sich in ihrem großen Duett im zweiten Akt in eine kaum verhüllte erotische Ekstase hineinsteigern, wird von Wagner der Kuss verweigert – wenn auf der Opernbühne echte Küsse eingefordert werden, handelt es sich in der Regel entweder um knappe Freundschaftsgesten oder um übergriffige Handlungen, die als nicht besonders sittenstreng charakterisiert werden.

Das unausgesprochene Kussverbot ist freilich nicht nur ein Beleg für die Doppelmoral des 19. Jahrhunderts (in dem die Prostitution blühte), sondern ein spätes Indiz dafür, dass Anstandsgefühl lange Zeit vor allem ein Gefühl für Abstand war: Undenkbar, dass den Liebespaaren in der Opera Seria der Barockzeit mehr Körperkontakt gestattet worden wäre als eine Berührung der Fingerspitzen. Denn egal, was man in den Kulissen trieb, auf der Bühne galt, dass die Darsteller die Umgangsformen ihrer Zeit respektierten – umso mehr, als sie meist Könige, Prinzessinnen oder sonstige Würdenträger verkörperten. Menschen also, denen man Abstand als Zeichen des Respekts schuldig war und deren Umgang miteinander durch Abstandsregeln reguliert wurde. Dieser Respekt wurde im Übrigen auch beim Tanz, dem zentralen Kontaktmedium der Zeit, beachtet: Es dauerte bis zum Vorabend der französischen Revolution, bis ein Tänzer überhaupt die Taille seiner Partnerin umfassen konnte, ohne Anstoß zu erregen. Nachdem die Revolution die gesellschaftlichen Verhältnisse durcheinandergewirbelt hatte, nahm man es zwar mit dem Abstand immer weniger ernst, doch die Oper, die die herrschende Moral zu repräsentieren hatte, tat sich mit der neuen Lust an der Berührung weiterhin schwer. An die Protagonisten wurden von Zensur und Publikum strenge Forderungen gestellt (was man auch daran sieht, dass gewagte Stücke wie LA TRAVIATA und CARMEN zunächst auf Irritationen stießen).

In der Filmgeschichte wurde zum ersten Mal 1896 geküsst, im Kurzfilm »The Widow Jones« – nur drei Jahre nach dem ersten Kuss auf der Opernbühne © Alamy Stock Foto
 

1893 aber war es Zeit für einen Umbruch, und dass ausgerechnet Altmeister Verdi in seinem FALSTAFF ein küssendes Liebespaar auf die Bühne brachte, zeigt, welch ein Gespür er für die anstehenden gesellschaftlichen Veränderungen hatte. Denn schließlich sind es diese beiden jungen Menschen, Nannetta und ihr Geliebter Fenton, denen die Zukunft gehört. Und diese Zukunft ließ nicht lange auf sich warten: Schon drei Jahre später, 1896, kam es unter Presserummel in dem Kurzfilm »The Widow Jones« zum ersten Filmkuss der Geschichte, und von da an sollte eine Erwartungshaltung geprägt werden, die den Kuss vor aller Augen zum unverzichtbaren Bestandteil jeder Liebesgeschichte machen sollte. Von Distanz war von da an keine Rede mehr, auch nicht davon, dass Gefühle manchmal umso intensiver wirken können, wenn sie sich nur durch den Gesang äußern können. Die Fixierung auf das Körperliche, die ja längst weit über das Küssen hinausgeht, wurde zu einem Leitthema der Kunst, der sich auch die Oper nicht entziehen konnte – auch wenn große Regisseur*innen wie Peter Brook, Ruth Berghaus oder auch Robert Wilson immer auch den Raum zwischen den Figuren auf der Bühne als Ausdrucksmittel genutzt haben. Und jetzt? Merken wir nicht jeden Tag, wie wir den räumlichen Abstand zueinander heute völlig anders wahrnehmen als noch vor einem Jahr? Dass sich unser Blick dafür geschärft hat, dass Abstand kein leerer Raum ist, sondern mit Sehnsucht, Hass oder Spannung gefüllt sein kann? Vielleicht wird so auch ein Kuss auf offener Bühne wieder zu etwas ganz Besonderem. —

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