Eine Frage der Schuld - Deutsche Oper Berlin

Eine Frage der Schuld

David Hermann inszeniert Iannis Xenakis’ ORESTEIA auf dem Parkdeck Deutsche Oper

Jeder Regisseur hat eine Wunschliste von seltenen Stücken, die er in der Hoffnung mit sich herumträgt, sie irgendwann einmal realisieren zu können. Bei David Hermann stand Iannis Xenakis’ ORESTEIA lange ganz weit oben auf der Liste und es war kein Wunder, dass er sofort dieses Stück vorschlug, als er nach dem Erfolg von Lachenmanns DAS MÄDCHEN MIT DEN SCHWEFELHÖLZERN über eine weitere Zusammenarbeit redete. Und schnell war auch der passende Ort für das Stück gefunden: Weil die Hauptbühne der Deutschen Oper Berlin wegen des Einbaus der neuen Obermaschinerie nicht zur Verfügung steht, schauten sich Hermann und sein Bühnenbildner Christof Hetzer einfach im Umfeld des Hauses um und wurden auf dem Deck des Parkhauses der Deutschen Oper fündig.Warum dasfür eine Freiluftaufführung konzipierte Stück nicht auch open air spielen? Zumal die gigantischen Stahltore des Kulissen-Magazins ein starkes Theaterzeichen für den Atriden-Palast darstellen. Wir, die Zuschauer, werden in Hermanns Inszenierung zum Volk, unter das sich der Chor mischt. Die gewaltigen Betonmauern werden transparent, wenn Kassandra, die Seherin, der niemand glaubt, die Morde vorhersagt. Mitten unter uns tanzen sich Orest und Elektra in Blutrausch. Die Erinnyen rütteln an den Absperrgittern und überfallen uns mit ihrer Forderung, den Muttermörder zu erschlagen. Athene predigt als moderne Politberaterin demokratische Deeskalation und erntet die aus den Nachrichten bekannte Ratlosigkeit.

David Hermann fasziniert an Xenakis’ ORESTEIA, dass hier der komplette Stoff der antiken Tragödien-Trilogie des Aischylos in einer guten Stunde verarbeitet, konzentriert und zu einem hochemotionalen und klanggewaltigen Musiktheater verdichtet wird. Dessen Partitur entstand aus der außergewöhnlichen Verbindung von Avantgarde und Freiluftspektakel, von radikaler Moderne und glühendem Interesse für die Kultur des antiken Griechenlands.

Am Beginn der Entstehungsgeschichte steht die Initiative kulturell engagierter Bürger im Mittleren Westen der USA. In der Kleinstadt Ypsilanti, in Michigan auf halbem Weg zwischen Detroit und der Universitätsstadt Ann Arbor gelegen, entdeckte man in den 60er Jahren, dass die Stadt nach dem griechischen Freiheitskämpfer Demetrios Ypsilanti [1793 –1832] benannt sei. Er hatte 1829 im Freiheitskampf den entscheidenden Sieg über das Osmanische Reich errungen und wurde nun zum Patron des Plans, ein „amerikanisches Epidauros“ zu schaffen: Ein Festspielhaus sollte errichtet werden, um in sommerlichen Antiken-Festspielen die Dramen des alten Griechenlands zur Aufführung zu bringen. Als künstlerischer Kopf des Unternehmens wurde der griechische Regisseur Alexis Solomos gewonnen, der 14 Jahre lang das Athener Nationaltheater geleitet hatte und als einer der damals erfolgreichsten Regisseure des Epidauros-Festivals ein Garant für „griechische Authentizität“ war. Die erste Spielzeit der Festspiele 1966 wurde Ende Mai mit Aristophanes’ „Die Vögel“ eröffnet, am 14. Juni folgte die Premiere der ORESTEIA von Aischylos, mit einer von Iannis Xenakis komponierten Schauspielmusik. Gespielt wurde open air im provisorisch hergerichteten Baseball-Stadion von Ypsilanti, da das eigentlich geplante Festspielhaus noch nicht gebaut war – und auch nie gebaut wurde, da das Festspielunternehmen bereits nach der zweiten Spielzeit Konkurs anmelden musste. Immerhin kam es noch zu einem Gastspiel der ORESTEIA-Produktion in Paris, der Stadt, die seit 1947 Lebens- und Arbeitsmittelpunkt des 1922 geborenen Iannis Xenakis war.

Als Kind griechischer Eltern war dieser im rumänischen Braila geboren worden. Nach dem frühen Tod der Mutter verbrachte er aber den Großteil seiner Kindheit und Jugend in einem Internat in Griechenland. Er entwickelte umfassende musische, philosophische und naturwissenschaftliche Interessen, studierte dann aber zwischen 1940 und 1946 in Athen Bauingenieurswesen und schloss dieses Studium mit Diplom ab. Nach der Okkupation Griechenlands 1941 unterstützte er den Widerstand, trat später der kommunistischen Partei Griechenlands bei und beteiligte sich nach Abzug der Wehrmacht Ende 1944 aktiv auf Seiten der Kommunisten am griechischen Bürgerkrieg. Im Januar 1945 wurde er schwer verwundet, verlor sein linkes Auge und war in der linken Gesichtshälfte fortan entstellt. Zwei Jahre später musste er, inzwischen in Abwesenheit zum Tode verurteilt, das Land verlassen. Er ging nach Paris ins Exil und konnte erst nach dem Ende der griechischen Militärdiktatur und der Aufhebung des Todesurteils 1974 wieder zurückkehren.

In Paris verdiente Xenakis sich zunächst seinen Lebensunterhalt als Ingenieur und später auch als künstlerischer Mitarbeiter im Büro des Architekten Le Corbusier. Parallel dazu nahm er musikalische Studien unter anderem bei Arthur Honegger und Olivier Messiaen auf. Mit der Uraufführung des Orchesterstücks „Metastasis“ gelang ihm 1955 der Durchbruch und in den Folgejahren etablierte sich Xenakis als einer der wichtigsten Vertreter der musikalischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts. Mit der Anwendung mathematischer Modelle zur Komposition einer enorm kraftvollen Musik erschloss Xenakis bislang unbekannte Klangwelten. Zugleich entstand in der öffentlichen Wahrnehmung aber das Bild des „Mathematiker-Komponisten“, während andere Aspekte seiner künstlerischen Arbeit, wie etwa die intensive Beschäftigung mit der griechischen Antike, drohten, darüber in den Hintergrund gedrängt zu werden.

So prägte die Beschäftigung mit den beiden großen Antipoden der vorsokratischen Philosophie, Parmenides und Heraklit, Xenakis’ Überlegungen zu Musiktheorie und künstlerischem Schaffensprozess. Die Schriften des antiken Musiktheoretikers Aristoxenos waren Inspirationsquelle für die Entwicklung von Skalen abseits der Dur-Moll-Tonalität, mit denen er, unter Verwendung von Drittel- und Vierteltönen, auch in der ORESTEIA gearbeitet hat. Zeit seines Lebens vertonte Xenakis zudem antike Literatur.

Bereits in einem seiner ersten Jugendwerke vertonte er Gedichte von Sappho, 1962 folgte die Uraufführung von „Polla ta Dhina“, der Vertonung eines Chorliedes aus Sophokles’ „Antigone“. 1964 beauftragte Alexis Solomos den Komponisten, die Chorlieder seiner Inszenierung der „Schutzflehenden“ des Aischylos im antiken Theater von Epidauros zu vertonen und zwei Jahre später wurde die erfolgreiche Zusammenarbeit mit der ORESTEIA in Ypsilanti fortgesetzt. 1967 entstand die Musik zu Senecas „Medea“ in Der Pariser Inszenierung Jorge Lavellis, in den 70er Jahren folgten Kompositionen von Chorliedern aus „Ödipus auf Kolonos“ und „Helena“, 1993 wurde das Musiktheater LES BACCHANTES D‘EURIPIDE [DIE BAKCHEN DES EURIPIDES] uraufgeführt und für die Eröffnung der Olympischen Spiele war in Zusammenarbeit mit Robert Wilson ein Prometheus-Projekt geplant. Xenakis’ Alzheimer-Erkrankung und sein Tod 2001 ließen das Projekt nicht mehr reifen.

Sofia Pintzou
 

Die Handlung der Oper

In Argos wartet das Volk seit zehn Jahren auf die Rückkehr seines Königs Agamemnon aus dem Trojanischen Krieg. Der hatte seine Tochter Iphigenie der Göttin Artemis geopfert, damit diese nicht weiter mit ungünstigen Winden den Aufbruch der griechischen Flotte verhindere. Während Agamemnons Abwesenheit ist seine Frau Klytämnestra eine Liaison mit dessen Vetter Aigisthos eingegangen. Um den Tod Iphigenies zu rächen und gemeinsam den Thron zu besteigen, ermorden die beiden Agamemnon bei dessen siegreicher Rückkehr aus dem Trojanischen Krieg. Jahre später tötet wiederum Orestes, der Sohn Agamemnons, Mutter und Onkel, um den Tod des Vaters zu rächen. Fortan wird der Muttermörder von den Erinnyen, archaischen Rächegöttinen, verfolgt. Erst das Eingreifen Athenes erlöst Orestes, indem sie ihn von einem neu geschaffenen Gerichtshof der Menschen freisprechen lässt und die Erinnyen in wohlmeinende Eumeniden verwandelt.

Seth Carico, Chor der Deutschen Oper Berlin
 

Die Schauspielmusik der ORESTEIA erfuhr über die Jahre mehrere Revisionen hin zur endgültigen, an der Deutschen Oper gespielten Fassung. Bereits 1967 entstand eine Konzertfassung für Chor und Kammerorchester. Statt der englischen Übersetzung wurden nun die altgriechischen Originaltexte verwendet, ansonsten folgt das Stück mit den drei Teilen „Agamemnon“ – „Choephoren“ – „Eumeniden“ dem Ablauf, Aufbau und Inhalt der Dramentrilogie. Eine Besonderheit dabei ist, dass die Partitur mit der Vertonung zentraler Passagen des Dramentextes eine umfangreiche Chorpartie enthält. Solopartien im engeren Sinne gibt es jedoch nicht. Vielmehr werden die Texte der Solisten etwa im langen Dialog von Elektra und Orest im zweiten Teil des Stückes, kurz vor der Tötung der Mutter Klytämnestra und ihres Liebhabers Aigisthos, von zwei sich aus dem Chor herauslösenden Solistengruppen gesprochen. Und an anderen Stellen stehen rein instrumentale Partien für gewisse Handlungsmomente – und fordern damit die Phantasie des Regisseurs.

Zwanzig Jahre später überarbeitete Xenakis das Stück erneut und holte es damit auf die Freiluftbühne zurück. 1987 inszenierte Iannis Kokkos ORESTEIA im sizilianischen Gibellina. Für den Bariton Spyros Sakkas, mit dem Xenakis eine langjährige Zusammenarbeit verband, fügte er in der neu komponierten Kassandra-Szene in „Agamemnon“ eine Solopartie hinzu. Kassandras Vision der bevorstehenden Morde wird von ihm als hochvirtuoses Selbstgespräch des Solisten komponiert. Lediglich begleitet von einem Schlagzeuger und einem Psalterion, einer Art Zither, die altgriechischen Instrumenten nachempfundenen ist, wechselt der Sänger permanent zwischen Bruststimme und Falsett, im Dialog zwischen der Seherin Kassandra und dem Chor. Wiederum fünf Jahre später kam im Auftrag des Griechischen Rundfunks eine weitere Soloszene hinzu. Es ist der Auftritt Athenes im dritten Teil, den „Eumeniden“. Diese Partie ist ebenfalls für einen Bariton komponiert, der zwischen Kopf- und Bruststimme wechselnd das Doppelwesen der Göttin verdeutlicht.

Mit der Musik der ORESTEIA versucht Xenakis keine Rekonstruktion antiker Musik. Vielmehr ist die Komposition durch und durch Xenakis, wenngleich er in der Partitur ältere Traditionslinien reflektiert – um sie auf seine sehr persönliche Weise neu zu verarbeiten. So knüpft er an die bedeutende Rolle des Chores in der antiken Tragödie an, indem dieser in seiner Vertonung zur eigentlichen Hauptfigur wird. Die Psychologie von Massenphänomenen wird dabei ebenso zum Thema wie die Dramaturgie ihrer Energieverläufe und ihrer Eigendynamik. Dies betrifft die Agonie, in der das kriegsmüde Volk von Mykenae auf das Ende des Trojanischen Kriegs und die Heimkehr ihres Königs Agamemnon wartet, den Blutrausch, in den es sich gemeinsam mit Elektra und Orest vor der Ermordung Klytämnestras hineinsteigert, die archaische Wut der Erinnyen, die den Muttermörder Orest verfolgen und schließlich auch den wilden Jubel, mit dem am Schluss des Stückes der Schiedsspruch Athenes gefeiert wird – und der zugleich die Frage offen lässt, ob hier wirklich der Sieg einer demokratischen, auf Konsens gegründeten neuen Ordnung gefeiert werden darf.

Zur Vertonung dieser großen Chorszenen bedient sich Xenakis eines breiten Repertoires musikalischer Mittel. Es wird in einer Art Psalmodie gesungen, die an byzantinische Kirchenmusik erinnert, es gibt blockartige, in einer ganz eigenen Quart- und Quintharmonik ausgesetzte Chorsätze, es wird chorisch gesprochen und im dritten Teil des Stückes wird vom Frauenchor – den Erinnyen – wild geschrien. Um hier die Dichte der Klangereignisse zu multiplizieren, gab Xenakis allen Chorsängern und Instrumentalisten bis zu drei Schlaginstrumente in die Hand: Triangel, Tambourine, Sirenen, Peitschen, Maracas, sowie Holz- und Metallplatten. Im Kontrast hierzu steht der Kinderchor, der mit der von Athene erwirkten Verwandlung der lärmenden Erinnyen in die wohlmeinenden, segenspendenden Eumeniden einsetzt und, wie im Einleitungschoral der „Matthäus-Passion“, als beruhigender Cantus firmus über das übrige Klanggeschehen gelegt wird.

Dem Chor steht ein Kammerorchester zur Seite, das mit Holz- und Blechbläsern, einem umfangreichen Schlagwerk sowie einem Solo-Violoncello besetzt ist. Auch hier ist es die Bandbreite musikalischen Ausdrucks im Rahmen einer dezidiert modernen Klangwelt, mit der diese Partitur besticht. In harten Orchesterschlägen oder dichten, schwarmartig organisierten Klangfeldern entfaltet Xenakis die ganze Wucht des ihm zur Verfügung stehenden Instrumentariums. Dann aber dünnt er den Orchestersatz aus, so dass nur noch einzelne Soloinstrumente übrig bleiben wie etwa die in höchster Lage geführte Oboe, mit der Xenakis den Klang des antiken Blasinstruments Aulos nachempfindet – oder die Piccoloflöte, die Verwandte der griechischen Souravli. Daneben finden sich Passagen, in denen mit exzessivem Schlagzeugeinsatz der Muttermord Orests begleitet wird oder wo mit Gongs, Glasglocken und wenigen Piano-Tönen der tiefen Holzbläser ein ätherisch-transzendentes Klangbild des Heiligen Hains von Delphi gezeichnet wird, in dem Orest Zuflucht vor den Erinnyen sucht.

Vom Baseballstadion in Ypsilanti über die Freiluftaufführung im sizilianischen Gibellina, über Aufführungen als archaisch-mythologisches Ballett in der Choreographie Joachim Schlömers 1993 in Ulm, als surreale Bildersinfonie 1995 im griechischen Epidauros in der Regie Dimitris Papaioannous oder als Spektakel vor mehreren Tausend Zuschauern auf dem Wiener Karlsplatz 2011 in der Regie Carlos Padrissas: Xenakis’ ORESTEIA, explizit komponiert für eine Freiluftaufführung, ist ein Werk, das nach ungewöhnlichen Spielorten und szenischen Lösungen verlangt. Und es ist ein Stück, das die archaische Kraft und zeitlose Aktualität von Aischylos’ Tragödien in die Moderne transferiert.

Aus dem Deutsche Oper Magazin, September 2014 / Von Boris Kehrmann
Boris Kehrmann lebt als Musik- und Theaterpublizist in Berlin. Zahlreiche internationale Veröffentlichungen in Tageszeitungen und Fachmedien. Demnächst erscheint sein Buch über „Walter Felsenstein im Dritten Reich“.

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